15. April 2025 Fachwissen , Praxiswissen

EKG-Interpretation für Notfallsanitäter: Diese Muster musst du erkennen können

Notfallsanitäter analysiert ein EKG in einer Notfallsituation

Als Notfallsanitäter gehört die Beurteilung eines EKGs zu deinen wichtigsten Kompetenzen im Rettungsdienst. In kritischen Situationen entscheidet deine Fähigkeit, lebensbedrohliche EKG-Veränderungen schnell zu erkennen, über den weiteren Behandlungsverlauf – und manchmal sogar über Leben und Tod eines Patienten. In diesem Artikel zeigen wir dir die essentiellen EKG-Muster, die du sicher interpretieren können musst, und geben dir praktische Tipps für die Prüfungsvorbereitung.

Warum EKG-Interpretation für Notfallsanitäter unverzichtbar ist

Im Rettungsdienst steht dir nicht immer sofort ein Notarzt zur Seite. Als Notfallsanitäter trägst du Verantwortung für:

  • Die Früherkennung akuter Herz-Kreislauf-Notfälle
  • Die Einleitung lebensrettender Maßnahmen
  • Die richtige Vorinformation des Notarztes oder der Zielklinik
  • Die Erkennung von Veränderungen im Verlauf

Praxis-Tipp: Entwickle eine Routine für die EKG-Interpretation im Einsatz. Eine systematische Herangehensweise reduziert die Gefahr, wichtige Veränderungen zu übersehen, auch unter Stress und Zeitdruck.

Die systematische EKG-Analyse: So gehst du vor

Bei jedem EKG – ob in der Prüfung oder im Einsatz – solltest du nach einem festen Schema vorgehen:

1. Technische Beurteilung und Rahmendaten

  • Ist die Eichung korrekt? (10 mm = 1 mV)
  • Ist die Papiergeschwindigkeit korrekt? (meist 50 mm/s in Deutschland)
  • Störeinflüsse (Muskelzittern, Wechselstromartefakte)
  • Sind alle Ableitungen vorhanden und beschriftet?

2. Herzfrequenz bestimmen

  • Schnelle Methode: 300 geteilt durch Anzahl der großen Kästchen (0,2 s) zwischen zwei R-Zacken
  • Bei unregelmäßigem Rhythmus: Anzahl der QRS-Komplexe in 6 Sekunden × 10

3. Herzrhythmus prüfen

  • Regelmäßig oder unregelmäßig?
  • Falls unregelmäßig: Ist die Unregelmäßigkeit regelmäßig oder völlig chaotisch?

4. Erregungsursprung und -leitung beurteilen

  • P-Wellen vorhanden? Morphologie? Beziehung zu QRS?
  • PQ-Zeit (normal 120-200 ms)
  • QRS-Breite (normal < 120 ms)
  • QT-Zeit (geschlechts- und frequenzabhängig)

5. Lagetyp bestimmen

  • Blick auf Extremitätenableitungen I, II, III
  • Hauptvektor des QRS-Komplexes (normal: Steiltyp oder Indifferenztyp)

6. Repolarisation beurteilen

  • ST-Strecken (Hebungen, Senkungen)
  • T-Wellen (Höhe, Form, Polarität)

7. Zusätzliche Auffälligkeiten erkennen

  • Pathologische Q-Zacken
  • Erregungsrückbildungsstörungen
  • Zeichen der Hypertrophie

Prüfungs-Tipp: Trainiere diese Systematik an möglichst vielen EKG-Beispielen. Arbeite mit echten Ausdrucken, nicht nur mit Büchern oder Screenshots. Das haptische Erlebnis kommt der Prüfungssituation viel näher.

Die 10 wichtigsten EKG-Muster für Notfallsanitäter

1. Sinusrhythmus: Die Grundlage jeder EKG-Interpretation

Erkennungsmerkmale:

  • Regelmäßige Herzaktion mit 60-100 Schlägen/min
  • Positive P-Welle in Ableitung I und II
  • PQ-Zeit konstant zwischen 120-200 ms
  • Jeder P-Welle folgt ein QRS-Komplex

Klinische Bedeutung:

  • Normalbefund
  • Baseline für die Erkennung von Abweichungen

Merkhilfe: Denke an ein perfekt geführtes Orchester mit dem Sinusknoten als Dirigenten.

2. Sinusbradykardie und Sinustachykardie: Wenn der Takt zu langsam oder zu schnell wird

Erkennungsmerkmale Bradykardie:

  • Sinusrhythmus mit < 60 Schlägen/min
  • Ansonsten normale EKG-Morphologie

Erkennungsmerkmale Tachykardie:

  • Sinusrhythmus mit > 100 Schlägen/min
  • P-Wellen können in T-Wellen versteckt sein

Klinische Bedeutung:

  • Bradykardie: Physiologisch bei Sportlern, aber auch bei AV-Blockierungen, Sinusknotenerkrankungen, Hypothermie, erhöhtem Hirndruck, Medikamentenwirkung
  • Tachykardie: Physiologisch bei Stress/Anstrengung, aber auch bei Fieber, Schock, Blutverlust, Herzinsuffizienz, Hyperthyreose

Praxis-Tipp: Beurteile Bradykardie und Tachykardie immer im klinischen Kontext! Eine Herzfrequenz von 45/min kann beim schlafenden Sportler normal, beim Schockpatienten jedoch bedrohlich sein.

3. Absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern: Chaos im Vorhof

Erkennungsmerkmale:

  • Keine erkennbaren P-Wellen, stattdessen Flimmerwellen
  • Völlig unregelmäßige Kammeraktionen
  • QRS-Komplexe meist schmal (bei reiner Erregungsleitungsstörung)
  • „Unordentliches” EKG-Bild

Klinische Bedeutung:

  • Häufigste anhaltende Herzrhythmusstörung
  • Thromboembolierisiko
  • Möglicher Hinweis auf strukturelle Herzerkrankungen
  • Kann hämodynamisch relevant werden bei schneller Überleitung

Merkhilfe: Stelle dir ein Orchester vor, in dem alle Violinen (Vorhöfe) gleichzeitig verschiedene Stücke spielen, während die Pauken (Kammern) versuchen, irgendwie mitzuhalten.

4. Vorhofflattern: Wenn der Vorhof zu schnell marschiert

Erkennungsmerkmale:

  • Sägezahnartige Flatterwellen mit einer Frequenz von 250-350/min
  • Meist regelmäßige Kammeraktion bei festem Überleitungsverhältnis (oft 2:1 oder 4:1)
  • Typische „Treppenform” in den Ableitungen II, III, aVF

Klinische Bedeutung:

  • Kann in Vorhofflimmern übergehen und umgekehrt
  • Häufig bei strukturellen Herzerkrankungen
  • Thromboembolierisiko ähnlich wie bei Vorhofflimmern

Merkhilfe: Im Gegensatz zum chaotischen Vorhofflimmern ist Flattern wie ein zu schnell marschierender Soldatentrupp – geordnet, aber mit zu hohem Tempo.

5. AV-Blockierungen: Wenn die Kommunikation gestört ist

AV-Block I°

  • Verlängerte PQ-Zeit > 200 ms
  • Jede P-Welle wird übergeleitet

AV-Block II° Typ Wenckebach

  • Progressiv zunehmende PQ-Zeit bis Ausfall eines QRS-Komplexes
  • Rhythmische „Gruppenschläge”

AV-Block II° Typ Mobitz

  • Konstante PQ-Zeit mit plötzlichem Ausfall eines QRS-Komplexes
  • Gefährlicher als Typ Wenckebach!

AV-Block III° (kompletter AV-Block)

  • Keine Beziehung zwischen P-Wellen und QRS-Komplexen
  • Langsamer Ersatzrhythmus aus dem His-Bündel oder den Kammern
  • P-Wellen „marschieren” durch das EKG

Klinische Bedeutung:

  • AV-Block I°: Meist harmlos, kann Vorbote höhergradiger Blockierungen sein
  • AV-Block II° Typ Wenckebach: Kann medikamentös, entzündlich oder ischämisch bedingt sein
  • AV-Block II° Typ Mobitz: Meist strukturelle Herzerkrankung, oft Schrittmacherindikation
  • AV-Block III°: Notfall! Gefahr der Asystolie, temporärer oder permanenter Schrittmacher notwendig

Praxis-Tipp: Bei jedem neu aufgetretenen höhergradigen AV-Block solltest du an einen akuten Myokardinfarkt denken, besonders bei Rechtsherzinfarkt!

6. Schenkelblockbilder: Wenn die Erregungsleitung gestört ist

Linksschenkelblock (LSB)

  • Verbreiterter QRS-Komplex > 120 ms
  • Typisches „M-Muster” in V5/V6
  • R-Progression verschoben
  • Sekundäre ST-Strecken- und T-Wellen-Veränderungen

Rechtsschenkelblock (RSB)

  • Verbreiterter QRS-Komplex > 120 ms
  • Typisches „rSR’-Muster” in V1
  • Breite S-Zacken in I und V6
  • Oft weniger ausgeprägte ST-T-Veränderungen als beim LSB

Klinische Bedeutung:

  • LSB: Häufig Hinweis auf strukturelle Herzerkrankung (KHK, Herzinsuffizienz), erschwert Infarktdiagnostik!
  • RSB: Kann Normvariante sein, aber auch bei Lungenembolie, Rechtsherzbelastung, ASD

Praxis-Tipp: Ein neu aufgetretener LSB kann Ausdruck eines akuten Myokardinfarkts sein und sollte wie ein STEMI behandelt werden!

7. Ventrikuläre Extrasystolen: Unerwünschte Extraschläge

Erkennungsmerkmale:

  • Vorzeitige, breite QRS-Komplexe (> 120 ms)
  • Keine vorausgehende P-Welle
  • Oft tiefe S-Zacke in V5/V6
  • Meist kompensatorische Pause danach

Klinische Bedeutung:

  • Einzelne VES: Häufig harmlos, können bei Herzgesunden auftreten
  • Gehäufte VES, Bigeminus, Couplets, Salven: Hinweis auf strukturelle Herzerkrankung
  • R-auf-T-Phänomen: Gefahr des Kammerflimmerns

Praxis-Tipp: Achte auf VES-Morphologie (monomorph/polymorph), Häufigkeit und Koppelungsintervall für die Risikoeinschätzung.

8. Kammertachykardie (VT): Ein echte Notfall

Erkennungsmerkmale:

  • Breite QRS-Komplexe (> 120 ms) in schneller Folge (meist > 150/min)
  • AV-Dissoziation möglich (unabhängige P-Wellen)
  • Monomorphe oder polymorphe Erscheinung
  • Cannon-A-Wellen am Jugularvenenpuls

Klinische Bedeutung:

  • Immer behandlungsbedürftig!
  • Kann in Kammerflimmern übergehen
  • Hämodynamische Instabilität häufig
  • Unterscheidung von supraventrikulärer Tachykardie mit aberranter Leitung oft schwierig

Notfall-Management:

  • Bei instabilem Patienten: Sofortige Kardioversion
  • Bei stabilem Patienten: Amiodaron oder Procainamid
  • Vermeidung von Verapamil (kann bei VT zum kardiovaskulären Kollaps führen!)

Merkhilfe: Eine VT sieht aus wie ein „Rattenschwanz” – viele breite, fast gleichförmige Ausschläge in schneller Folge.

9. ST-Hebungsinfarkt (STEMI): Zeit ist Muskel

Erkennungsmerkmale:

  • ST-Hebungen ≥ 0,1 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Ableitungen
  • Spiegelbildliche ST-Senkungen in gegenüberliegenden Ableitungen
  • Später: Entwicklung von Q-Zacken und T-Negativierungen

Lokalisation:

  • Vorderwandinfarkt: V1-V6
  • Hinterwandinfarkt: ST-Senkungen in V1-V3, ST-Hebungen in zusätzlichen Ableitungen V7-V9
  • Inferiorer Infarkt: II, III, aVF
  • Lateraler Infarkt: I, aVL, V5-V6
  • Rechtsherzinfarkt: ST-Hebung in V4R

Klinische Bedeutung:

  • Akuter Verschluss einer Koronararterie
  • Schnellstmögliche Reperfusion notwendig
  • Bei Rechtsherzinfarkt: Vorsicht mit Nitraten und Volumenbelastung beachten
  • Bei Hinterwandinfarkt: Auf AV-Blockierungen achten

Praxis-Tipp: Lerne die „Infarkt-Muster” für verschiedene Koronarien – jeder Infarkt hinterlässt seine typische Signatur im EKG.

10. Elektromechanische Entkopplung und Asystolie: Die kritischsten Rhythmen

Erkennungsmerkmale EMD/PEA:

  • Elektrische Aktivität im EKG (oft breite QRS-Komplexe)
  • Fehlender Puls und fehlende Herzaktion
  • Oft Bradykardie mit zunehmender Verbreiterung der QRS-Komplexe

Erkennungsmerkmale Asystolie:

  • Keine elektrische Aktivität („Nulllinie”)
  • Überprüfung mehrerer Ableitungen notwendig
  • Ausschluss technischer Probleme

Klinische Bedeutung:

  • Reanimationspflichtige Situationen
  • PEA: Reversible Ursachen suchen (4 H’s und HITS)
  • Asystolie: Schlechteste Prognose aller Rhythmusstörungen

Notfall-Management:

  • Hochqualitative CPR
  • Adrenalin alle 3-5 Minuten
  • Behandlung der Grundursache

Praxis-Tipp: Bei jeder „Nulllinie” im Monitor: Immer erst Artefakt ausschließen! Verbindungen prüfen, andere Ableitung wählen, Defibrillator-Paddles als Diagnostikum nutzen.

Typische Fehlerquellen in der Prüfung

Bei der EKG-Interpretation können folgende Fehler auftreten:

1. Fokussieren auf eine Auffälligkeit bei Übersehen einer anderen

Vermeidungsstrategie: Systematisch jedes EKG nach dem oben beschriebenen Schema durchgehen, auch wenn dir sofort etwas ins Auge springt.

2. Fehlinterpretation bei technischen Problemen

Vermeidungsstrategie: Immer zuerst die technischen Aspekte beurteilen (Eichung, Ableitungen, Artefakte).

3. Verwechslung ähnlicher EKG-Bilder

Vermeidungsstrategie: Lerne die Unterscheidungsmerkmale häufig verwechselter EKG-Bilder:

  • Supraventrikuläre vs. ventrikuläre Tachykardie
  • Frühe Repolarisation vs. Perikarditis vs. STEMI
  • Linksschenkelblock vs. Kammerhypertrophie

4. Überbewertung unspezifischer Veränderungen

Vermeidungsstrategie: Korreliere EKG-Befunde immer mit der Klinik des Patienten. Nicht jede T-Wellen-Veränderung ist ein Infarkt!

Lernstrategien für die EKG-Interpretation

Um in der Prüfung und im Einsatz souverän EKGs zu interpretieren, empfehle ich folgende Lernstrategien:

1. Systematisches Lernen der Grundlagen

Bevor du komplexe Pathologien angehst, solltest du folgende Basics beherrschen:

  • Normale EKG-Abschnitte und ihre Bedeutung
  • Normwerte für Zeiten und Amplituden
  • Ableitungssysteme und ihre anatomische Zuordnung

2. Pattern-Recognition-Training

Trainiere dein Auge für typische EKG-Muster:

  • Sammle EKG-Beispiele in einer persönlichen „Bibliothek”
  • Übe mit Blitz-Erkennungskarten (vorne EKG, hinten Diagnose)
  • Nutze Apps mit EKG-Quizfunktionen

3. Von der Physiologie zur Pathologie

Verstehe, wie physiologische Veränderungen zu EKG-Veränderungen führen:

  • Wie beeinflussen elektrische Verzögerungen die Kurvenform?
  • Wie wirken sich Ischämien auf die Repolarisation aus?
  • Wie entstehen Ersatzrhythmen?

4. Klinische Szenarien durchspielen

Verbinde EKG-Befunde mit klinischen Präsentationen:

  • „Welches EKG erwartest du bei einem 60-jährigen mit Brustschmerz und Atemnot?”
  • „Welche Differentialdiagnosen kommen bei ST-Hebung in II, III, aVF in Frage?”
  • „Wie verändert sich das EKG im Zeitverlauf nach einem STEMI?“

5. Gemeinsam lernen

Der Austausch mit Kollegen ist unschätzbar wertvoll:

  • Organisiere EKG-Lerngruppen
  • Diskutiere EKGs aus deinen Einsätzen
  • Hole Feedback von erfahrenen Kollegen oder Notärzten

Prüfungs-Tipp: In der mündlichen Prüfung solltest du nicht nur das EKG korrekt interpretieren, sondern auch die klinischen Konsequenzen erläutern können: „Bei diesem STEMI der Vorderwand würde ich folgende Maßnahmen einleiten…”

Fazit: Übung macht den Meister

Die sichere EKG-Interpretation ist keine angeborene Fähigkeit, sondern das Ergebnis systematischen Lernens und vieler geübter Fälle. Beginne frühzeitig in deiner Ausbildung mit der regelmäßigen EKG-Analyse und nutze jede Gelegenheit, deine Interpretation von erfahrenen Kollegen überprüfen zu lassen.

Denke daran: Im Notfall kann deine Fähigkeit, ein kritisches EKG-Muster zu erkennen, den entscheidenden Zeitvorteil für eine lebensrettende Therapie bringen. Investiere daher Zeit in diese Schlüsselkompetenz – deine zukünftigen Patienten werden es dir danken.

Du möchtest deine EKG-Kenntnisse vertiefen und gezielt für die Notfallsanitäter-Prüfung üben? In unserem speziellen EKG-Fragenkatalog für Notfallsanitäter findest du über 200 prüfungsrelevante EKG-Beispiele mit ausführlichen Interpretationen und Handlungsanweisungen!

Redaktion MedizinLernenPlus

Redaktion MedizinLernenPlus

Autor bei MedizinLernenPlus mit Expertise im Bereich medizinischer Ausbildungsberufe.